"Freiwild: Die Odenwaldschule - ein Lehrstück von Opfern und Tätern." von Tilman Jens

'36 Jahre nach meinem Abitur und den 15 Monaten Zivildienst als Hilfselektriker und Assistenzbibliothekar hat mich die Odenwaldschule wieder. Eigentlich ist es ja andersherum: Ich habe sie an der Backe - und werde sie nicht mehr los. Immer neue Spuren in die eigene Vergangenheit tun sich auf. Für dieses Buch habe ich mit rund hundert Zeugen gesprochen. Mit alten Freunden, Experten, Beschuldigten, Opfern und Tätern. Ursprünglich wollte ich einen Text ausschließlich über den Missbrauch des Missbrauchs, über die falschen Verdächtigungen schreiben, über die Treibjagd, denen sich nun manch altgedienter Mitarbeiter ausgesetzt sieht. Doch der Fall liegt, bei genauerem Hinschauen, eben weit komplizierter' Tilman Jens


Der über Jahrzehnte hinweg verschwiegene Missbrauch von über hundert Schutzbefohlenen an der Odenwaldschule, kurz OSO, dem liberalen Vorzeige-Internat der Republik, war eine der großen Skandale des Jahres 2010. Der Journalist und Buchautor Tilman Jens kennt viele der Betroffenen - Opfer, Täter und Verdächtigte - seit langer, langer Zeit. Tilman Jens war Anfang der 70erJahre, als die Ära des Leiters Gerold Becker, der Zentralfigur der verhängnisvollen Affäre, begann, Schüler an der OSO. Jetzt legt er sein facettenreiches Erinnerungsbuch vor: 'Freiwild: Die Odenwaldschule - ein Lehrstück von Opfern und Tätern.' Er beschreibt, auch anhand von bislang unbekannten Zeugenaussagen, die Skrupellosigkeit, mit der die sexuellen Übergriffe begangen wurden. Ein Täter, mittlerweile über 80, redet zum ersten Mal Klartext. Jens geht es aber nicht allein um die akkurate Dokumentation von sexueller Gewalt, sondern ebenso um ihre Verortung im wilden Aufbruchsgeist der 70 Jahre. Allein mit unseren heutigen Werten und Kenntnissen, etwa über die Traumatisierung der Opfer, lassen sich die schrecklichen Vorkommnisse, die oft weit mehr als 30 Jahre zurückliegen, nicht begreifen. Bei allem Verständnis für die Empörung der Missbrauchten: 'Der Pranger', schreibt Jens, 'ist kein geeigneter Ort der Erinnerung. 'So geht diese von viel Empathie mit den missbrauchten Mitschülern von einst durchzogene Streitschrift auch mit dem blindwütigen Übereifer von Anklägern und windigen Zeugen ins Gericht, die das 100jährige Internat nun als konspirativ betriebenen Knabenpuff hinstellen und - den Prinzipien des Rechtsstaates spottend - einstige Mitarbeiter, in rufmörderischen Kampagnen, als Täter oder deren Helfershelfer denunzieren. Warum fällt die bedachtsam-genaue Aufklärung des Skandals so schwer? Was kann und muss die Odenwaldschule tun, um die letzte Chance zu einer Aussöhnung mit den Opfern zu nutzen, um den moralischen Bankrott abzuwenden, dem schon bald der ökonomische folgen könnte? 'Freiwild', das mutige, weit über den Einzelfall Odenwaldschule hinausweisende Aufklärungsbuch eines Insiders, der bei seinen Recherchen zwischen alle Fronten geriet, wagt unbequeme Antworten.